Einsamkeit in einem dunklen Raum.

Charlott, Mittwoch — 12. März

// aus dem Notizbuch von Charlott

Fritz ist heute im Roll­stuhl von der Klinik zurück­gekehrt, der Atemgeruch von Chemie und Medika­menten liegt noch in der Luft. Sein klein­er Kopf liegt in der Nähe mein­er Stirn, und ich spüre, wie die Kälte der Pflege­in­fra­struk­tur sog­ar in mein Herz ein­dringt. Ein leis­er Atemzug des Beat­mungs­gerätes hebt seinen Brustko­rb und erin­nert mich daran, wie leicht alles zer­fall­en kön­nte.

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Junge Frau sitzt auf dem Boden.

Charlott, Mittwoch — 10. Juni

Zu Hause. Ich saß auf dem Boden, den Rück­en gegen die Spüle gelehnt, und zählte die Kacheln zwis­chen meinen Füßen. Sieben. Immer sieben. Als ob das eine Antwort wäre. Als ob Zahlen mich ret­ten kön­nten. Die Kaf­fee­tasse neben mir ist kalt, der Kaf­fee darin schwarz wie die Nacht, in der ich nicht schlafen kon­nte. Wieder nicht. Ich sollte aufräu­men. Ich sollte Fritz’ Medika­mente sortieren. Ich sollte Wern­er anrufen und vorgeben, als wäre ich nicht nur ein Hohlraum, der seine Stimme ver­schluckt. Aber stattdessen star­rte ich auf das Handy in mein­er Hand. Eine Nachricht. Von ihr.

„Char­lott, ich brauche dich. Heute. Bitte.“

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Frau sitzt traurig auf Treppe.

Charlott, Dienstag — 9. Juni

Ich liege wach, die Decke riecht noch nach Desin­fek­tion und abge­s­tanden­em Tee. Durch die Lamelle fällt ein schar­fes Band Neon­licht, das den Staub in der Luft wie kleine Knochen glitzern lässt. Mein Herz macht kleine, panis­che Geräusche, als hätte es sel­ber einen mech­a­nis­chen Schrittmach­er nötig. Die Frage fällt in mich wie kaltes Wass­er: Hätte ich von mir aus die Ehe erfun­den? Die Worte schmeck­en met­allisch, als hätte ich sie an einem Instru­ment abgeschlif­f­en.

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Dunkle Treppe mit nachdenklicher Person.

Charlott – Montag, der 8. Juni

Ich liege wach, die Neon­röhre im Flur wirft ein kaltes Band durchs Fen­ster, und mein Herz macht Geräusche wie ein alter Beat­mungsap­pa­rat, unregelmäßig, nervös. Gedanken zer­ren an mir, wie Pfleger, die zu früh in den Raum kom­men: unge­beten, rou­tiniert. Welche Prob­leme löst die Ehe?

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Traurige, erschöpfte Person in einem Raum.

Charlott — Sonntag, der 7. Juni

Der Mor­gen bricht durch die ble­ichen Vorhänge, ohne dass die Sonne ihr Licht wirk­lich durch­drin­gen lässt. Ich liege noch einen Moment still im Bett, lausche dem dumpfen Rauschen der Lüf­tungsan­lage im Bad und spüre, wie die Müdigkeit meine Glieder fest umk­lam­mert. Der Kör­p­er weigert sich, aufzuste­hen; jede Bewe­gung kostet ein kleines Stück Kraft, das ich kaum noch habe.

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Traurige, erschöpfte Person in einem Raum.

Charlott — Samstag, der 6. Juni

Die Tür zur Reha‑Station schließt sich hin­ter mir mit einem dumpfen Geklack. Es bricht mich in die Gedanken an Fritz: Ein Schlag‑Herz‑Monitor gibt den Takt für Fritz’ Mono‑Atmung an – ein Met­al­lk­lang, der mir das Bild von ein­er kleinen, leblosen Mas­chine in den Kopf drückt. In diesem Moment bre­it­et sich Angst wie kaltes Wass­er über meine Brust aus.

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Verlassener Raum mit melancholischer Stimmung.

Die Depression, die Wand und Antrieb

Der Antrieb, seine Abwe­sen­heit, ist der Tage der Stören­fried, der meinen Tages­mut frisst, meine Angst auflack­ern lässt. Ärg­er und Wut ver­puffen gegen ihn, als würde ich, mein Zauber­er, eine Druck­welle gegen eine Wand jagen. Die Wand ste­ht. Die Tür, die der Zauber­er in der Wand gesucht hat. Sie gibt es nicht.

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Charlott auf lesend im Zimmer

Charlott — Freitag, 5. Juni

In der Nacht ver­wüstete ich das Bet­t­la­gen und der Mor­gen tränkt sich in einen hal­ben Traum. Er begin­nt mit dem laut­en Piepen der Alar­m­glocke, dem rhyth­mis­chen Klick­en des Beat­mungs­gerätes, das Fritzes kleine Brust hebt und senkt. Die Laut­stärke drückt mir die Trä­nen in die Augen, in mir brodelt eine Wut, die sich nicht mehr nur auf die Pflege­pro­tokolle des Pflege­di­en­stes aus­bre­it­et, die starr wie ein Zah­n­rad ren­nen.

Ich sehe die Pflegekraft S., die erneut die Infu­sio­nen prüft, und plöt­zlich fühlt sich ihr Lächeln wie ein falsches Manöver an.  Warum dür­fen sie mir vorschreiben, wie ich meine Sohn‑und‑Mutter‑Pflicht zu erfüllen habe? Die Wut ist das Schmier­mit­tel, das das lange Getriebe mein­er Psy­che am Laufen hält – sie treibt mich an, ver­nichtet die Leere, um nicht stil­lzuste­hen, son­dern meine Hände wieder in die Tat zu leg­en.

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Frau hält ein Kind und Buch.

Charlott — Donnerstag, 5. Juni

Heute ist ein­er dieser Tage, an denen das Geräusch der alarm­sicheren Tür­glocke im Flur mehr wie ein Tak­t­stock wirkt, der meine innere Sym­phonie dirigiert – eine Sym­phonie aus Wut, Verzwei­flung und ein­er flüchti­gen, fast schmerzhaften Hoff­nung. Der Pflege­di­enst. Die Ärzte. Sie schla­gen mir die Ther­a­piepläne ins Gesicht, als kön­nten sie damit das Unauswe­ich­liche kor­rigieren. Ich sehe, wie die Pflegekraft S. die Tropf‑Infusionen prüft, während ich im Kopf das Bild von Fritz sehe, wie er in seinem Bug­gy liegt, die Augen halb geschlossen, der kleine Kör­p­er von einem Beat­mungs­gerät erstickt. Der Gedanke, dass ich ihn hier nicht berühre, lässt meine Hände zit­tern – nicht aus Angst, son­dern aus ein­er sen­gen­den Wut, die mich bis in die Knochen treibt. 

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a silhouette of a woman in a dark room

Charlott — Mittwoch, 4. Juni

Heute Mor­gen bin ich kaum aus dem Bett gekom­men. Ich lag wie fest­ge­tack­ert, mit diesem grauen Gewicht in der Brust, das mich langsam auf­frisst. Es ist nicht nur Müdigkeit. Es ist diese tiefe, hohle Erschöp­fung, die mir sagt, dass es völ­lig egal ist, ob ich auf­ste­he oder nicht. Aber Fritz braucht mich. Er röchelt schon, wenn ich noch nicht mal meinen ersten Kaf­fee hat­te, und dann fängt der Tag an wie ein Sturz in eiskaltes Wass­er. Ich funk­tion­iere. Ich bin nur noch Funk­tion.

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