Frau hält ein Kind und Buch.
Frau hält ein Kind und Buch.

Charlott — Donnerstag, 5. Juni

Heute ist ein­er dieser Tage, an denen das Geräusch der alarm­sicheren Tür­glocke im Flur mehr wie ein Tak­t­stock wirkt, der meine innere Sym­phonie dirigiert – eine Sym­phonie aus Wut, Verzwei­flung und ein­er flüchti­gen, fast schmerzhaften Hoff­nung. Der Pflege­di­enst. Die Ärzte. Sie schla­gen mir die Ther­a­piepläne ins Gesicht, als kön­nten sie damit das Unauswe­ich­liche kor­rigieren. Ich sehe, wie die Pflegekraft S. die Tropf‑Infusionen prüft, während ich im Kopf das Bild von Fritz sehe, wie er in seinem Bug­gy liegt, die Augen halb geschlossen, der kleine Kör­p­er von einem Beat­mungs­gerät erstickt. Der Gedanke, dass ich ihn hier nicht berühre, lässt meine Hände zit­tern – nicht aus Angst, son­dern aus ein­er sen­gen­den Wut, die mich bis in die Knochen treibt. 


Die Reha zwingt mich, Abstand zu gewin­nen. Sie sagen, das sei gut für meine psy­chis­che Sta­bil­ität. Ich sitze an mein­er alten Schreib­mas­chine, die Tas­ten klick­en wie das dumpfe Pochen mein­er eige­nen Brust. Jede Zeile, die ich tippe, ist ein Ver­such, das Chaos zu ord­nen. Während ich schreibe, dringt die Verzwei­flung wie ein dichter Nebel – das Gefühl, dass das Leben meines Sohnes ein end­los­es, wan­dern­des Labyrinth ist, aus dem kein Kranken­z­im­mer den Aus­gang ken­nt. Ich frage mich, ob ich jemals wieder einen Moment der Nor­mal­ität find­en werde, in dem das Atmen nicht mehr eine geplante Mas­chine, das Essen keine Sonde, das Lächeln ein fernes Relikt ist. 


Doch zwis­chen den Stür­men flack­ert etwas, das ich kaum zu benen­nen wage: Hoff­nung. Nicht die naïve, rosarote Hoff­nung, son­dern ein knarziges, ros­tiges Pflaster, das an mein­er Seele klebt. Ich stelle mir vor, dass Fritz, trotz allem, einen Herz­schlag hat, der stärk­er ist als das Klick­en des Beat­mungs­geräts. Vielle­icht ist es die Vorstel­lung, dass ich ihn eines Tages wieder in die Arme schließen kann – nicht als Heldin, son­dern als müde Mut­ter, die ein­fach nur das Recht hat, still zu sitzen und ihn zu berühren, ohne das Sum­men von Geräten, ohne einen Alarm der Mon­i­tore.


Ich halte inne, lege ein Tuch über die Schreib­mas­chine, atme tief ein, und während das Geräusch meines Atems die Stille füllt, erkenne ich: Die Wut gibt mir die Energie, die Verzwei­flung hält mich am Boden, und die Hoff­nung ist das ein­same Licht im lan­gen Kor­ri­dor. Ich werde weit­er schreiben, weit­er kämpfen, weil das Schreiben das Einzige ist, das mir das Gefühl gibt, noch ein Stück Nor­mal, ein Stück Men­sch zu sein.
— Char­lott

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