Junge Frau sitzt auf dem Boden.
Junge Frau sitzt auf dem Boden.

Charlott, Mittwoch — 10. Juni

Zu Hause. Ich saß auf dem Boden, den Rück­en gegen die Spüle gelehnt, und zählte die Kacheln zwis­chen meinen Füßen. Sieben. Immer sieben. Als ob das eine Antwort wäre. Als ob Zahlen mich ret­ten kön­nten. Die Kaf­fee­tasse neben mir ist kalt, der Kaf­fee darin schwarz wie die Nacht, in der ich nicht schlafen kon­nte. Wieder nicht. Ich sollte aufräu­men. Ich sollte Fritz’ Medika­mente sortieren. Ich sollte Wern­er anrufen und vorgeben, als wäre ich nicht nur ein Hohlraum, der seine Stimme ver­schluckt. Aber stattdessen star­rte ich auf das Handy in mein­er Hand. Eine Nachricht. Von ihr.

„Char­lott, ich brauche dich. Heute. Bitte.“

Drei Worte. Ein Satz. Ein Messer.

Hilde. Meine „beste Fre­undin“. Das klingt so lächer­lich, wenn ich es auf­schreibe. Als wäre Fre­und­schaft etwas, das man in Anführungsze­ichen set­zen muss, wie eine Diag­nose, die nie­mand stellen will. Sie nen­nt mich ihre beste Fre­undin, als wäre das ein Titel, den ich ver­di­ent hätte. Aber was weiß ich schon über Ver­di­enst? Ich kenne nur Schuld. Und die Frage, die mich seit Tagen – nein, seit Jahren – auf­frisst: Bin ich wirk­lich ihre beste Fre­undin? Oder bin ich nur die, die bleibt, wenn alle anderen gegan­gen sind?

Ich erin­nere mich an den Tag, als wir uns ken­nen­lern­ten. Im Lit­er­atur­café. Eine Lesung über „Lit­er­atur und Trau­ma“. Iro­nisch, nicht? Sie saß vor mir, trug dieses absurde, pink­far­bene Hal­stuch, als wollte sie die Welt her­aus­fordern, sie zu ertra­gen. Ich hat­te ger­ade eine Durch­schlagskraft von drei Tassen Kaf­fee und ein­er durchwacht­en Nacht in mir, und als sie sich umdrehte und fragte, ob sie sich meinen Kuli lei­hen könne, lachte ich. Nicht mit ihr. Über sie. Über uns bei­de. Über die Vorstel­lung, dass irgen­det­was in diesem Raum – in dieser Welt – nor­mal sein kön­nte. Sie lachte zurück. Und plöt­zlich waren wir Kom­plizin­nen.

Aber Komplizinnen – wofür?

Ich sollte für sie da sein. Das ist es, was beste Fre­undin­nen tun, oder? Sie hören zu. Sie hal­ten Hände. Sie sagen die richti­gen Dinge. Aber ich? Ich stand in ihrer Woh­nung, zwis­chen den Kar­tons mit ihren Sachen – sie zog wieder um, immer wieder, als kön­nte sie der Ver­gan­gen­heit davor­laufen –, und ich star­rte auf die Wand, auf der noch die Umrisse ihrer alten Bilder zu sehen waren. Sie redete. Über ihren neuen Job. Über den Typen, den sie ken­nen­gel­ernt hat­te. Über ihre Äng­ste. Und ich? Ich zählte die Pillen in mein­er Tasche. Drei. Genug, um mich ruhig zu hal­ten. Genug, um mich taub zu machen. Genug, um nicht zu müssen, was ich am meis­ten fürchte: fühlen.
„Char­lott, hörst du mir über­haupt zu?“

Ich nick­te. Lüge. Natür­lich hörte ich ihr zu. Aber ich hörte auch das Biepen von Fritz’ Mon­i­tor in meinem Kopf. Ich hörte Wern­er, der fragte, wann ich nach Hause komme. Ich hörte meine Mut­ter, die flüsterte: „Du warst immer schon zu viel für die anderen.“ Und vor allem höre ich mich selb­st. Dieses ständi­ge, gnaden­lose Flüstern: Du bist nicht genug. Du bist zu viel. Du bist falsch.

Vor zwei Wochen hat sie mir einen Brief geschrieben. Einen echt­en Brief. Mit Tinte. Auf Papi­er, das nach Laven­del roch. „Char­lott“, stand da, „manch­mal habe ich das Gefühl, du bist schon woan­ders, bevor du über­haupt angekom­men bist.“ Ich habe den Brief ver­steckt. Zwis­chen Papi­er und der Schachtel mit den Tablet­ten des Tages, die ihn am Leben hal­ten. Oder mich. Ich weiß es nicht mehr.

Bin ich ihre beste Freundin?

Ich weiß nicht ein­mal, was das bedeutet. Bin ich die, die sie anruft, wenn sie weint? Ja. Bin ich die, die ihr die Hand hält, wenn sie Angst hat? Manch­mal. Bin ich die, die sie wirk­lich sieht? Nein. Denn wie kön­nte ich? Wie kön­nte ich sie sehen, wenn ich mich selb­st nicht ein­mal im Spiegel erkenne?

Ich sollte gehen. Sie wartete. Aber ich saß noch immer hier, auf diesem kalten Küchen­bo­den, und schrieb in Noti­zapp. Vielle­icht, weil ich damals schon wusste, dass Worte das Einzige sind, was mich hält. Vielle­icht, weil ich Angst habe. Nicht vor ihr. Son­dern davor, dass sie eines Tages merkt, was ich schon lange weiß: Dass ich nicht ihre beste Fre­undin bin. Dass ich nur die bin, die geblieben ist. Aus Man­gel an Alter­na­tiv­en. Aus Angst vor der Leere, die zurück­bleibt, wenn man geht.

Und vielle­icht – das ist der schlimm­ste Gedanke von allen – bin ich gar nicht ihre Fre­undin. Vielle­icht bin ich nur der Spiegel, in dem sie sich selb­st betra­cht­en kann. Ein verz­er­rter, ris­siger Spiegel, der ihr zeigt, wer sie nicht ist. Und sie? Vielle­icht ist sie der einzige Men­sch, der mich noch an etwas erin­nert, das wie Men­schlichkeit aussieht.
Ich stand auf. Die Kacheln unter meinen Füßen waren kalt. Sieben. Immer sieben. Ich atmete ein. Ein­mal. Zweimal. Dann schrieb ich ihr zurück:
„Ich komme. Warte auf mich.“
Und für einen Moment – nur für einen – glaube ich selb­st daran.

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