Traurige, erschöpfte Person in einem Raum.
Traurige, erschöpfte Person in einem Raum.

Charlott — Sonntag, der 7. Juni

Der Mor­gen bricht durch die ble­ichen Vorhänge, ohne dass die Sonne ihr Licht wirk­lich durch­drin­gen lässt. Ich liege noch einen Moment still im Bett, lausche dem dumpfen Rauschen der Lüf­tungsan­lage im Bad und spüre, wie die Müdigkeit meine Glieder fest umk­lam­mert. Der Kör­p­er weigert sich, aufzuste­hen; jede Bewe­gung kostet ein kleines Stück Kraft, das ich kaum noch habe.

Im Essen­saal greife ich nach dem Hafer­brei. Doch am Tisch zit­tern meine Hände, als ich den Löf­fel halte. Der Geschmack ist fad, leer, kaum wahrnehm­bar – mein Geist ist bere­its an einem anderen Ort. Ich stelle mir Fritz vor, wie er in sein­er Klinik liegt, das Fieber so hoch, dass die Mon­i­tore ein kon­tinuier­lich­es Piepen von sich geben. Das Bild bren­nt sich in meinem Gedächt­nis, jedes Piepen ein Messer­stich in meine Brust.

Der erste Tage­spunkt ist wie ein end­los­er Strom von Grup­pen­sitzun­gen, den ich wie ein leis­es Sum­men im Hin­terkopf wahrnehme. Ich set­ze mich, schließe die Augen, und die Stim­men der anderen Patien­ten ver­mis­chen sich mit meinen eige­nen Gedanken: „Wie kann ich weit­er kämpfen, wenn ich kaum die Kraft finde, meine Zehen zu bewe­gen?“ Die Anspan­nung steigt, weil das Ther­a­peu­ten­team meine depres­sive Ver­stim­mung zu analysieren ver­sucht, während ich mich frage, ob über­haupt noch etwas zu analysieren ist.

Nach der Sitzung ver­schwim­men meine Gedanken und es schle­icht meine Zim­mer­nach­barin Judith zu mir ins Zim­mer, ihre Stimme ein kurzes Flüstern, das den­noch ver­sucht, mich aus diesem Sog zu reißen. Sie spricht von der Idee, vom möglichen Besuch bei Fritz, von „ein biss­chen Nor­mal­ität“. Ich spüre die Zer­ris­senheit meines Wun­sches danach, die mich seit Monat­en durch­bohrt: Auf der einen Seite erhebt sich das Feuer der Liebe zu Fritz, das mich immer wieder zu ihm zurückschiebt; auf der anderen Seite die küh­le Stimme der Ver­nun­ft, die mir sagt, dass ich hier bleiben muss, son­st ver­liere ich mich völ­lig.

Ein Anruf von Wern­er – kurz, mech­a­nisch, voller Ver­sprechen, die ich kaum glauben kann. Er spricht über seinen aktuellen Auf­trag auf Mon­tage, über das näch­ste Urlaub­svorhaben, über die Hoff­nung, dass wir bald wieder ein nor­males Fam­i­lien­leben führen. Ich füh­le die Verzwei­flung in sein­er schwachen Stimme, ein dün­ner Schleier, der über den harten Worten liegt. „Wie lange noch hier, ohne Fritz?“, frage ich mich, „bis das Fieber nach­lässt, bis das Leben wieder ein wenig atmen lässt?“

Der Nach­mit­tag endet mit ein­er Schreib­sitzung an mein­er alten Eri­ka-Schreib­mas­chine. Jed­er Tas­ten­druck ist ein Schlag ins Herz, jed­er Buch­stabe ein Beweis, dass ich noch existiere. Ich schreibe über die erschöpfende Rou­tine, über das Gefühl, zwis­chen zwei Wel­ten zu ste­hen, und über das klamme Bedürf­nis, zu schreien, ohne dass jemand hört. Ich krit­zle mit Bleis­tift die drei Gefüh­le – Ermü­dung, Zer­ris­senheit, Verzwei­flung – in dick­en Buch­staben aufs Papi­er. Die Worte fließen, rau und unverblümt, wie der Klang ein­er kaput­ten Klar­inette in einem Jaz­zk­lub.

Jet­zt, während das Licht schwäch­er wird, lege ich das Blatt bei­seite und strecke die Hände über die Tas­tatur, als kön­nte ich die Tas­tatur selb­st berühren. Ich weiß, dass mor­gen wieder der­selbe Kampf begin­nt: zwis­chen den gleißen­den Schein­wer­fern der Klinik, dem stillen Flüstern der Pflegekräfte und dem ständi­gen Dröh­nen des Herz­mon­i­tors bei Fritz. Und doch – tief unten, unter der Schicht aus Müdigkeit und Verzwei­flung – flack­ert ein winziges Licht. Vielle­icht ist es das Let­zte, was ich noch ret­ten kann: die Erin­nerung, dass ich für Fritz da war, dass ich gekämpft habe, auch wenn ich dabei fast zer­brach.

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