Charlott auf lesend im Zimmer

Charlott — Freitag, 5. Juni

In der Nacht ver­wüstete ich das Bet­t­la­gen und der Mor­gen tränkt sich in einen hal­ben Traum. Er begin­nt mit dem laut­en Piepen der Alar­m­glocke, dem rhyth­mis­chen Klick­en des Beat­mungs­gerätes, das Fritzes kleine Brust hebt und senkt. Die Laut­stärke drückt mir die Trä­nen in die Augen, in mir brodelt eine Wut, die sich nicht mehr nur auf die Pflege­pro­tokolle des Pflege­di­en­stes aus­bre­it­et, die starr wie ein Zah­n­rad ren­nen.

Ich sehe die Pflegekraft S., die erneut die Infu­sio­nen prüft, und plöt­zlich fühlt sich ihr Lächeln wie ein falsches Manöver an.  Warum dür­fen sie mir vorschreiben, wie ich meine Sohn‑und‑Mutter‑Pflicht zu erfüllen habe? Die Wut ist das Schmier­mit­tel, das das lange Getriebe mein­er Psy­che am Laufen hält – sie treibt mich an, ver­nichtet die Leere, um nicht stil­lzuste­hen, son­dern meine Hände wieder in die Tat zu leg­en.

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a silhouette of a woman in a dark room

Charlott — Mittwoch, 4. Juni

Heute Mor­gen bin ich kaum aus dem Bett gekom­men. Ich lag wie fest­ge­tack­ert, mit diesem grauen Gewicht in der Brust, das mich langsam auf­frisst. Es ist nicht nur Müdigkeit. Es ist diese tiefe, hohle Erschöp­fung, die mir sagt, dass es völ­lig egal ist, ob ich auf­ste­he oder nicht. Aber Fritz braucht mich. Er röchelt schon, wenn ich noch nicht mal meinen ersten Kaf­fee hat­te, und dann fängt der Tag an wie ein Sturz in eiskaltes Wass­er. Ich funk­tion­iere. Ich bin nur noch Funk­tion.

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Am Krankenbett mit Rettungsdienst in KI

Charlott 2 (v)

Der Ret­tungswa­gen traf schneller ein, als ich es jemals für möglich gehal­ten hätte. Fritz lag dort, sein Kör­p­er ges­pan­nt und regungs­los. Nor­maler­weise ist er ein leb­hafter Junge, fast zu leb­haft, sagen die Ther­a­peuten. Doch jet­zt zuck­ten nur seine Augen­lid­er unkon­trol­liert. In mein­er Verzwei­flung hat­te ich den Kinder­arzt angerufen, aber er stam­melte nur unver­ständlich vor sich hin. „Ich kann eh nichts machen, vielle­icht ist es ein Anfall, ein epilep­tis­ch­er“, sagte er und erwäh­nte, dass seine Prax­is über­füllt sei. „Wie, Sie kön­nen nichts machen?“ Doch auf meine Nach­frage erhielt ich nur Schweigen als Antwort. Ent­nervt legte ich auf.

Hilde hat­te mich schon oft gefragt, warum ich nicht den Arzt wech­se­le. Ich antwortete nicht; ich schuldete ihr keine Erk­lärung. Aber tief in mir wusste ich, dass, wenn ich Fritz’ Arzt sah, ich das Gefühl hat­te, ihn in die richti­gen Hände zu leg­en. Er griff nicht zu hastig in Fritz’ Leben ein und fragte nie, ob wir zu wenig täten. Obwohl er nie zu Hause Lösun­gen suchte und bei jedem Prob­lem eine Ein­weisung in die Klinik bevorzugte, spürte ich, dass er der Richtige war.

Die Wartezeit auf den Notarzt zog sich hin. Die San­itäter jedoch waren unglaublich schnell; es schien, als hät­ten sie direkt vor der Tür auf den Notruf gewartet. Als sie die Woh­nung betrat­en, wehte eine küh­le, fast gespen­stis­che Luft here­in. Ich war unsich­er, sollte ich die Hand reichen oder es bei einem ein­fachen Hal­lo belassen? Ich wusste nie, ob ich die Sit­u­a­tion richtig erk­lärte. „Heute ist er anders, ganz anders als son­st“, erk­lärte ich den San­itätern. Der Kinder­arzt kommt nicht. Fritz’ Kranken­schwest­er schien eben­falls rat­los, Trä­nen standen ihr in den Augen. Ich wies sie an, im Wohnz­im­mer auf dem Sofa zu warten. Ich brauchte Raum um Fritz.

Die San­itäter began­nen, ihre Aus­rüs­tung auszu­pack­en und fragten, ob Fritz kurzzeit­ig ohne Beat­mung auskom­men kön­nte. Ich verneinte entsch­ieden, seine Beat­mung musste genau eingestellt bleiben. Sie schaut­en mich an, als hätte ich sie angeschrien. Meine Hände zit­terten, während ich san­ft Fritz’ erhitztes Gesicht stre­ichelte. „Haben Sie schon Fieber gemessen?“, fragte ein­er der San­itäter. Ich erstar­rte. Das war die Auf­gabe der Schwest­er. Warum son­st war sie hier? Sie rührte sich nicht, ihr Gesicht krei­de­ble­ich.

In diesem Moment fühlte ich, dass jede Sekunde zählte. „40,1“, hörte ich die San­itäter sagen. Mein Herz sank. Während sie eine Vene sucht­en und eine Infu­sion vor­bere­it­eten, ver­suchte ich, die Zeit anzuhal­ten, hielt Fritz fest und wün­schte, er würde ein­fach bleiben. Der Notarzt kam here­in, drängte mich bei­seite und begann mit der Unter­suchung. Diazepam war das Stich­wort, und sie fragten nach früheren Anfällen. Ich nick­te nur.

Schließlich pack­ten der Arzt und ein San­itäter Fritz, der andere bere­it­ete alles für den Trans­port vor. Als ich im Ret­tungswa­gen saß und das Sig­nal­horn ertönte, fühlte ich mich, als würde ich erdrückt – unfähig zu atmen, gefan­gen in mein­er Angst und Sorge um Fritz.